eResourcing: Lebenslauf für Produkte: Effizienzsteigerung und Mehrwert durch geschlossene Lebensdatenzyklen

21. Oktober 2022 | DMD4Future: Interview mit Dr. Stefan Gerth


Bislang ist es unmöglich, Produktdaten vom Rohstoff bis zum Recycling systematisch zu erfassen. Dafür ist die Wertschöpfungskette zu komplex und der Datenfluss nicht durchgängig genug. Damit bleibt jedoch ein großes Potenzial für die Optimierung der Produktion ungenutzt. Wie das Fraunhofer-Projekt DMD4Future jetzt zeigt, kann das eResourcing entsprechende Lösungen liefern, indem es Daten an verschiedenen Stellen der Prozesskette sammelt und miteinander verknüpft. Der Clou: Die Daten lassen sich zugleich in vielen Stufen der Wertschöpfungskette für Optimierungen nutzen.   

Die digitale Vernetzung in der Industrie hat ihren Charme: Kameras überwachen automatisch die Qualität von Bauteilen auf Fließbändern, Sensoren rufen selbständig die Wartungstechnikerin oder den Wartungstechniker, wenn ein Werkzeug verschlissen ist, und Produktionsanlagen bestellen von selbst Nachschub, wenn Bauteile zur Neige gehen. Dank leistungsfähiger Mikroprozessoren und einer Internetanbindung kommunizieren heute immer mehr Geräte miteinander. Als Industrie 4.0 ist dieser Trend zur kompletten Vernetzung von Maschinen gut bekannt. Doch eines ist trotz aller Fortschritte kaum möglich: Daten über ein Bauteil vom Rohstoff über die Produktion und die Nutzung bis zu seinem Lebensende vollständig zu erfassen. »Keine Industrie ist bis heute in der Lage, Informationen systematisch über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes zu gewinnen und zu nutzen«, sagt Dr. Stefan Gerth, Abteilungsleiter am Fraunhofer IIS. »Das ist bedauerlich, weil wir damit ein großes Potenzial für die Optimierung der Produktion, die Verbesserung der Produktqualität, für mehr Nachhaltigkeit und letztlich für Einsparungen ungenutzt lassen.«

Zusammen mit Expertinnen und Experten von 15 Fraunhofer-Instituten hat Stefan Gerth im Fraunhofer-Verbundprojekt DMD4Future – kurz für Digitalisierte Material- und Datenwertschöpfungsketten für die Zukunft – jetzt untersucht, wie sich die Fülle von Daten entlang der Wertschöpfungskette bis zum Lebensende eines Produktes erfassen und nutzen lässt. Dazu hat das Team unter anderem die Produktion von Gussteilen für Fahrzeuge und Motoren genau analysiert.

Gussteile werden heute vor der Auslieferung in der Gießerei mithilfe von Röntgenstrahlen, Ultraschall und anderen Methoden geprüft. Dabei untersucht man zum Beispiel, ob sie Poren, Risse oder Fehlstellen haben, die später zu einem Schaden führen könnten. Die Ergebnisse der Tests werden in einem Prüfbericht zusammengefasst, der dann oftmals in Form einer pdf-Datei zusammen mit dem Gussteil an den Kunden ausgeliefert wird. Dem Bauteil gehen damit für seinen weiteren Weg aber all die detaillierten Informationen verloren, die man zuvor mit Röntgen oder Ultraschall gewonnen hatte. Diese Daten wären indes ausgesprochen wertvoll. Sollte das Bauteil irgendwann versagen, könnte man die Röntgendaten zur Hand nehmen und analysieren, welche Schwachstelle möglicherweise zum Fehler geführt hat. »Mit der Zeit können die Hersteller daraus lernen, welche Mikrostrukturen häufiger zum Versagen führen«, erklärt Stefan Gerth. »Diese Erkenntnisse könnten dann in den Gießereiprozess zurückfließen, um ihn zu verbessern.« Denkbar wäre auch, dass Hersteller baugleiche Gussteile mit kleinen Fehlstellen nicht in Hochleistungs-Motoren einsetzen, sondern in solchen, die weniger beansprucht werden – etwa bei niedrigeren Temperaturen arbeiten. Gerth: »Diese Beispiele zeigen, dass es viele Möglichkeiten gibt, digitale Informationen über ein Bauteil oder ein Produkt zu nutzen, wenn man sie denn erfassen würde.«

Daten vielfach nutzen

Diese Mehrfachnutzung von Daten gehört zur eResourcing-Strategie, die innerhalb des Fraunhofer-Projekts DMD4Future entwickelt worden ist. In diesem Fall besteht die Idee darin, Daten, die in der Produktion entstehen, nicht brach liegen zu lassen, sondern zu vermarkten. Die Herausforderung ist, Informationen, die an einer bestimmten Stelle der Wertschöpfungskette entstehen, in die nächsten Produktionsstufen zu übertragen. »Wir müssen dafür gewissermaßen mehrere Datenwolken miteinander verknüpfen«, führt Stefan Gerth aus. Dass das funktionieren kann, hat die Analyse der verschiedenen Schritte des Gießereiprozesses gezeigt; benötigt wird dafür insbesondere Expertise über Schnittstellen. Stefan Gerth und seine Kollegen setzen unter anderem auf den internationalen Schnittstellen-Standard »OPC UA«, der für die Industrie 4.0 entwickelt worden ist.

Eine konkrete Lösung für einen durchgängigen Datenfluss über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes hinweg wäre ein detaillierter digitaler Zwilling, in den Daten aus allen Stufen einfließen. Das können dann auch Sensordaten sein, die zeigen, wie stark ein Bauteil während des Betriebs belastet wird. Kombinierte man diese Information mit dem Wissen über die Prüfung aus dem Gießereiprozess, könnte man künftig zum Beispiel auch abschätzen, ob ein Bauteil über seine eigentliche Lebensdauer hinaus noch weiter genutzt werden könnte – wenn es während des Betriebs nur geringen Belastungen ausgesetzt war.

Reale Informationen in die Produktion zurückspielen

»Das Schöne an diesem eResourcing-Konzept ist, dass wir darin reale Daten aus dem Prozess zusammenführen, um daraus vielfältige Lösungen zu generieren, die wir in die reale Welt zurückspielen«, hebt Stefan Gerth hervor. Ein solch allumfassender Datensatz wäre auch zum Lebensende interessant, wenn das Produkt wiederverwendet werden soll. Da der digitale Zwilling auch Daten über die Mengen der eingesetzten Rohstoffe enthalten würde, könnte man zum Beispiel ein Gussbauteil sehr viel gezielter wiederverwenden – und würde es nicht einfach auf den Metallschrott werfen.

Gießereiprozesse zeichnen sich auch heute noch dadurch aus, dass viel Handarbeit und Erfahrungswissen nötig sind. Gießerei-Werkzeuge wie etwa Gussformen verschleißen durch die hohen Temperaturen mit der Zeit. Die Anlagen müssen entsprechend nachjustiert werden, um die gewünschte Qualität beizubehalten. Erfahrene Technikerinnen und Techniker verfügen über das entsprechende Wissen. Fällt jemand wegen Krankheit oder Pensionierung aus, geht dieses Wissen verloren. »Das eResourcing bietet jetzt die Chance, sehr viel detaillierter als bisher Maschinenparameter aufzunehmen und diese mit den Informationen über die Produktqualität zu verknüpfen«, sagt Stefan Gerth. »Das würde beim Steuern der Anlage helfen.«

Die Analyse des Gießereiprozesses im Projekt DMD4Future hat gezeigt, dass eine solche vollständige Digitalisierung machbar ist. In der Zukunft soll das Prinzip dann auf weitere Produktionsprozesse ausgeweitet werden.

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