Sie sind die neuronalen Netze der nächsten Generation: Spiking Neural Networks – vom menschlichen Gehirn inspiriert, rasend schnell und extrem energieeffizient. Doch lassen sich diese Vorteile auch in der Anwendung nutzen? Wir unterziehen SNNs dem Praxis-Check.
Groß, größer, am größten – das ist der Eindruck, der sich unweigerlich aufdrängt, wenn man die Debatten rund um Künstliche Intelligenz verfolgt. Schon im Namen steckt es ja drin: Large Language Models. Möglichst viele vernetzte Neuronen sollen möglichst hochwertige Outputs erzeugen. Allerdings könnten sich diese Erwartungen in manchen Anwendungen als Fata Morgana erweisen. Überall dort, wo die Hardware enge Grenzen setzt, wo Echtzeit und Effizienz miteinander im Einklang stehen müssen, werden KI-Schwergewichte schnell zur Last.
Dabei gibt es bereits Hoffnungsträger, die mit ihrer Leichtgewichtigkeit beeindrucken: Spiking Neural Networks (SNNs), die sich die Datenverarbeitung vom Gehirn abgeschaut haben und Informationen in Form von Pulsen übertragen. Die Zeiten, in denen SNNs eine rein akademische Übung waren, sind jedenfalls vorbei – immer deutlicher kristallisiert sich heraus, wo die pulsenden Neuronen gegenüber klassischen Netzen im Vorteil sind. Wir stellen fünf Branchen vor, in denen Spiking Neural Networks den Unterschied machen können.
1. Mobilfunk
In der Entwicklung künftiger 6G-Netze ist eine entscheidende Phase angebrochen. Immer wieder wird sich die Branche nun in 3GPP zusammenfinden und Details erarbeiten, bis sich Stück für Stück ein Standard herausbildet. Und schon jetzt ist klar: Die neue Generation wird blitzschnell sein. Bei den Latenzen soll 6G die Marke von 100 Mikrosekunden knacken. Zugleich soll der bisher energieeffizienteste Mobilfunk entstehen. Auch Künstliche Intelligenz wird eine zentrale Rolle einnehmen.
Extrem schnell und trotzdem extrem energieeffizient, in diesem vermeintlichen Widerspruch stoßen herkömmliche KI-Modelle jedoch an Grenzen. SNNs hingegen können die hohen Anforderungen an die 6G-Signalverarbeitung erfüllen und dadurch Anwendungen wie Channel Estimation, Interference Detection oder Joint Communication and Sensing in Endgeräten ermöglichen. Hinzu kommt, dass angesichts von Krisen und Katastrophen die Resilienz der kritischen Infrastruktur zurzeit verstärkt in den Fokus rückt. Hier können SNNs eine ihrer außergewöhnlichsten Eigenschaften ausspielen: Sie sind in der Lage, komplexe Muster zu lernen und unter minimalem Stromverbrauch in Echtzeit zu erkennen und zu verarbeiten. Dies macht sie zum idealen Detektor für Anomalien. So können technische Ausfälle, ungewollte Interferenzen oder feindliche Angriffe im Funknetz abgewehrt werden.
2. Robotik
Mobile und autonom agierende Roboter sollen komplexe Aufgaben meistern. Was das bedeutet, lässt sich besonders gut am Beispiel einer Drohne veranschaulichen. Sie muss kontinuierlich ihre Umwelt erfassen und in Echtzeit durch unbekannte Territorien manövrieren. Doch Größe und Gewicht begrenzen die Energieversorgung an Bord. Das hat Einfluss auf die maximale Flugdauer. Soll eine Drohne etwa einen Waldbrand überwachen, so kann eine energiehungrige KI den Akku belasten und den Missionserfolg gefährden.
Ein Anwendungsfeld für SNNs liegt hier in der Navigation. Ein Mensch nimmt 80 Prozent seiner Umwelt über das Auge wahr. Nach diesem Vorbild funktionieren auch eventbasierte Kameras, die Informationen übertragen, sobald sich die Helligkeit verändert. So können Drohnen schneller auf Veränderungen ihrer Umgebung reagieren und die Gefahr von Unfällen reduzieren. Doch auch an der Wurzel können SNNs Abhilfe schaffen: im Elektromotor. Dort setzt die Industrie auf eine möglichst kompakte und effiziente Bauweise, was sich in einer möglichst kleinen Menge an verbauten Sensoren widerspiegelt. Konventionelle sensorlose Motorregler haben jedoch Probleme in sehr niedrigen und sehr hohen Drehzahlbereichen. SNNs können die Motorsignale direkt ohne Abtastung und Zwischenspeicherung verarbeiten und daraus Steuerbefehle generieren. Dies verspricht eine verbesserte sensorlose Motorsteuerung.
3. Satelliten
In den Höhen des Weltalls sollen Satelliten die Funknetze am Boden stützen und stärken. Um den zunehmend datengetriebenen Informationsaustausch zu zähmen, wird der Einsatz von KI vorangetrieben. Doch die Herausforderungen sind immens. Zum einen müssen Satelliten leistungsfähig genug sein, um hohe Datenmengen direkt an Bord zu verarbeiten. Zum anderen ist das verfügbare Energie-Budget begrenzt. Zudem entsteht während des Betriebs Wärme, die unter schwierigen Bedingungen abgeführt werden muss, um eine Überhitzung der Systeme zu verhindern.
Während klassische Verarbeitungssysteme wie CPUs oder GPUs an diesen Herausforderungen scheitern, haben Spiking Neural Networks das Potenzial, sie zu überwinden. Ob in der Erdbeobachtung, der Kommunikation oder der Navigation – in vielen Anwendungen können SNNs die Performance steigern: vom Filtern und Komprimieren gesammelter Daten direkt auf dem Satelliten über On-Board Beamforming bis hin zur Fernerkundung. In einem Forschungsprojekt der ESA gelang der Nachweis, dass der Einsatz eines SNN-Chips im Bereich der Inferenzdetektion und -klassifikation bis zu 100.000-mal weniger Energie verbraucht als ein klassisches neuronales Netz.1 In anderen Studien konnten SNNs die Latenzen in der Bildkompression um bis zu 50 Prozent reduzieren.2
4. Automotive
Wer in einen Neuwagen steigt, fährt mittlerweile nicht mehr allein. Eine Vielzahl von Assistenzsystemen unterstützt und übernimmt in verschiedenen Verkehrssituationen automatisch die Fahrfunktionen. Und das soll nur ein Zwischenschritt sein auf dem Weg zum autonomen Fahren, das den virtuellen Beifahrer vollständig ans Steuer hievt. Doch die Sicherheit muss dabei zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein.
Ob in der Stadt oder auf der Autobahn, im Sonnenschein oder bei Starkregen, umgeben von Fahrradfahrern oder Fußgängern: Die Fahrzeuge müssen über Kamera- und Radarsensoren andauernd wechselnde und komplexe Situationen in Entscheidungen übersetzen. Die Latenzen dürfen nur minimal sein. Läuft ein Kind plötzlich auf die Fahrbahn, kann schon die kleinste Verzögerung beim Ausweichen böse enden. SNNs sind hier im Vorteil, weil sie zeitliche Dynamiken erfassen. Sie sind somit prädestiniert für den Umgang mit Ereignissequenzen. Und natürlich spielt auch auf der Straße die Energieeffizienz eine immer bedeutendere Rolle. Mit SNNs lassen sich Studien zufolge bis zu 85 Prozent Energie gegenüber konventionellen Methoden einsparen.3 Das hilft im anbrechenden Zeitalter der Elektromobilität, in dem sich Autobauer keine stromfressende KI leisten können.
5. Industrie 4.0
In Produktionshallen kann sich jeder kleine Fehltritt, jede kleine Abweichung vom Normalzustand in einen kostspieligen Produktionsausfall verwandeln. Deshalb geht es etwa im Bereich der Predictive Maintenance darum, drohende Probleme schnell zu erkennen, um sofort Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Dabei hilft eine Künstliche Intelligenz, die nahe am Sensor sitzt und Daten lokal verarbeitet.
Ein weiteres Beispiel ist die Herstellung von Lebensmittelverpackungen. Hier herrschen strengste Auflagen hinsichtlich des Gasgemisches, das eine Schutzatmosphäre um die Lebensmittel herum bildet und dafür sorgt, dass diese lange frisch bleiben. Setzt ein Unternehmen auf Überwachung per Stichprobe, bedeutet das: viel Ausschussware und noch mehr Abfall. Eine Alternative sind Multi-Sensoren, die das Gasgemisch während des Verpackungsprozesses analysieren, im Falle von Unstimmigkeiten in Echtzeit entfernen und die Ausschussware umgehend in die Produktion zurückführen. Allerdings ist der Durchsatz an Produkten extrem: Tetrapacks laufen in etwa 20 bis 30 Millisekunden pro Pack vom Band. Herkömmliche neuronale Netze sind hierfür schlichtweg zu langsam. SNNs hingegen können mit ihren Stärken in der Anomaliedetektion innerhalb von Mikrosekunden nachregeln. Weniger Ausschuss, noch weniger Abfall, eine höhere Produktionsrate und die Digitalisierung der Kreislaufwirtschaft – das Beispiel beweist: Auch wenn es um die großen Visionen geht, ist eine schwergewichtige Künstliche Intelligenz nicht zwangsläufig die beste Lösung.
Referenzen
- Eva Lagunas, Flor G. Ortiz, Geoffrey Eappen, Saed Daoud, Wallace A. Martins, Jorge Querol, Symeon Chatzinotas, Nicolas Skatchkovsky, Bipin Rajendran und Osvaldo Simeone (2024), Performance Evaluation of Neuromorphic Hardware for Onboard Satellite Communication Applications.
- Sayan Kahali, Sounak Dey, Chetan Kadway, Arijit Mukherjee und Arpan Pal (2023), Low-Power Lossless Image Compression on Small Satellite Edge using Spiking Neural Network.
- Aitor Martinez Seras, Javier Del Ser und Pablo Garcia-Bringas (2023), Efficient Object Detection in Autonomous Driving using Spiking Neural Networks: Performance, Energy Consumption Analysis, and Insights into Open-set Object Discovery.