»Technik zwingt uns, über uns nachzudenken«

19. Oktober 2017 | Interview mit Dr. Dr. Albrecht Fritzsche über die digitale Transformation aus philosophischer Sicht

Die sich vollziehende Digitalisierung unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft prägt unsere Gegenwart. Als Forschungsinstitut schaffen wir insbesondere im Rahmen unseres Leitthemas »kognitive Sensorik« die technologischen Grundlagen für die digitale Transformation. Albrecht Fritzsche arbeitet am Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik 1 der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, mit dem wir eng kooperieren. Als Mathematiker verfügt er über eine profunde Innensicht zur Digitalisierung. Als Philosoph nimmt er aber auch das große Ganze in den Blick. Dazu wollten wir mehr wissen. Wir sprachen mit ihm über seine Einschätzungen dazu, wie die digitale Transformation unsere Gesellschaft verändern wird, wie Mensch und Technik zukünftig interagieren und welche Verantwortung wir bei dieser Entwicklung tragen.

Herr Fritzsche, die Digitalisierung löst gesellschaftlich verschiedene Emotionen aus. Manche Menschen befürchten, dass Jobs verloren gehen oder dass die Privatsphäre zunehmend weniger geschützt ist. Woher kommen diese Ängste, können Sie sie verstehen und wie kann man ihnen begegnen?

Jede wichtige gesellschaftliche Entwicklung sollte kontrovers diskutiert werden. Das ist ja das Schöne an einer Demokratie, dass man nicht alles einfach so hinnimmt, sondern kritisch hinterfragt. Was mir auffällt, ist allerdings, dass diejenigen, die tatsächlich von der Digitalisierung betroffen sind, viel weniger Bedenken darüber äußern als Medien und Interessenvertreter. Wenn ich die Menschen auf der Straße beobachte und sehe, wie sie ihre Smartphones nutzen, dann habe ich den Eindruck, dass sie sehr unbefangen mit der Digitalisierung umgehen. Ich weiß also gar nicht, ob das Thema die Menschen wirklich so sehr berührt oder ob wir hier eher einen intellektuellen Diskurs mit uns selbst führen und das dann auf die Leute von der Straße draufprojizieren.

© Fraunhofer IIS
Dr. Dr. Albrecht Fritzsche ist promovierter Mathematiker und Philosoph.

Reagieren wir als Gesellschaft einfach sehr emotional auf die sich abzeichnende Veränderung?

Überraschend wenig eigentlich aus meiner Wahrnehmung. Ich hatte damit gerechnet, dass die Leute Schwierigkeiten haben, weil ja tatsächlich sehr radikale Veränderungen stattfinden. Ich glaube, dass wir erst langsam anfangen zu durchschauen, wie sehr sich die Welt verändert oder wie sich alte Strukturen auflösen und durch neue ersetzt werden. Wir erkennen nach und nach, was das eigentlich alles an Entscheidungen nach sich zieht, wie unser Leben sich verändert und welche neuen Möglichkeiten dazu kommen – das spiegelt sich, glaube ich, kaum in der Bevölkerung wieder.

Man kann das dadurch erklären, dass sich diese neue Technik irgendwie natürlich anfühlt. Das ist etwas, dass wir früher so nicht kannten. Das beste Beispiel sind Handys, die innerhalb weniger Jahre zu einem unverzichtbaren Teil des Alltags geworden sind. Und das ist faszinierend: dass die neue Technik so gut reinpasst in unser Leben und gar nicht keine großen Abwehrreaktionen mehr hervorruft.


Die wichtigsten Begriffe in Kürze: Digitalisierung, Internet of Things, künstliche Intelligenz und die Wissensgesellschaft

Technik als Antwort auf unsere Bedürfnisse

 

Ist die Technik also menschenfreundlicher geworden? Oder sind wir Menschen technikfreundlicher geworden?

Technik ist weiterhin Technik, aber die Art und Weise, wie sie ins menschliche Leben reinspielt, hat sich doch stark gewandelt. Bisher hatten wir es mit Technik vor allem im Arbeitsalltag zu tun, in der Industrie, auf dem Weg dorthin oder auch im Haushalt. Im Privatleben haben wir nicht so viel mit Technik zu tun. Alle diese Apparate waren eher Fremdkörper für uns. Beim Handy ist das umgekehrt. Es gehört zu unserem Privatleben. Es ist unser ständiger Begleiter und wir nutzen es ganz selbstverständlich. Technik erfüllt damit ganz grundlegende Bedürfnisse: sie macht uns zu Sozialwesen. Wir können verbunden sein mit den Leuten, die wir mögen, von denen wir Neues wissen wollen. Und so überwiegt für viele dieser Vorteil beim Nutzen eines Smartphones, auch wenn wir wissen, dass wir dabei Daten von uns preisgeben.

 

Die Technik antwortet also einfach nur auf unsere Bedürfnisse?

Ja, im Prinzip hat das Technik immer schon so gemacht. Schauen wir auf das Automobil oder die Erfindung des Buchdrucks. Technik hat immer konkrete Probleme gelöst und einen Mehrwert gebracht. Das geht zurück bis zu ganz frühen Formen: Ein Kleidungsstück und ein Dach über dem Kopf sind ja auch Technik. Tatsächlich beschreibt der Begriff ursprünglich genau diese Tätigkeiten. Über Technik haben wir schon immer versucht, Verbesserungen für den Menschen zu schaffen. Daneben nehmen wir aber auch einen anderen Aspekt wahr; nämlich, dass wir auf die Technik nicht mehr verzichten können.

 

Nehmen wir etwas Anderes in den Blick: Was bedeutet es, wenn wir mehr und mehr Wissen von Datenbanken abrufen und weniger gezwungen sind, alles selbst zu wissen? Werden wir bestimmte kognitive Fähigkeiten verlieren und andere gewinnen?

Der Philosoph denkt bei diesen Fragen natürlich gleich an einen Dialog von Platon namens »Phaidros«. Dort geht es auch schon um dieses Problem, bezogen auf die Einführung der Schrift im alten Ägypten. Schrift ist ja ebenfalls eine Informationstechnologie, die man dafür kritisieren kann, dass wir durch sie die Fähigkeit verlieren, uns zu erinnern, weil wir Ereignisse schriftlich festhalten können. Das ist also alles nicht neu: Wir bauen durch Technik bestimmte Fähigkeiten aus und gleichzeitig gehen uns andere Fähigkeiten verloren. Und diese Dynamik zieht sich wirklich durch die gesamte menschliche Kulturgeschichte. Das war beim Buchdruck so, aber auch bei anderen Technologien: Wir hatten immer auch Verlusterfahrungen, wenn Neues in unsere Gesellschaft kam. Und das ist etwas Grundsätzliches: Sobald ich neue Möglichkeiten aufbaue und mich entscheide, diese Möglichkeiten wahrzunehmen, verliere ich den Zugriff auf andere Entwicklungswege, die noch möglich gewesen wären. Das heißt, um auf die konkrete Frage zurück zu kommen: Natürlich werden sich unsere kognitiven Fähigkeiten dadurch verändern. Und hier haben wir dann auch einen großen Gestaltungsauftrag, zu schauen, in welche Richtung wir uns tatsächlich entwickeln wollen.

Der Einfluss der Digitalisierung auf uns Menschen

 

Und wie beeinflusst nun konkret die Digitalisierung unser Denken und Handeln? Werden wir in Zukunft eher in Algorithmen denken oder treten Dinge, die sich nicht digital abbilden lassen, in den Hintergrund?

Oft scheint es mit eher so, dass technische Geräte sichtbar machen, was sich vorher schon in unserem Denken entwickelt hat. Computer hatten beispielsweise zu Beginn ja die Aufgabe, Rechenoperationen durchzuführen, die wir vorher auf Papier gemacht haben. Flugzeuge hat man nach dem Vorbild des Vogelflugs entwickelt. Die grundlegenden Konzepte gab es also schon, und sie wurden dann in Form von Geräten abgebildet. Und wenn wir sie dann so vor uns sehen, dann merken wir plötzlich, was sich noch alles daraus ergeben kann.

Das ist etwas sehr Spannendes an der ganzen Entwicklung:  dass wir an der Technik vorgeführt bekommen, was in unseren Köpfen vorgeht, was unsere Wünsche wirklich bedeuten, wenn sie erfüllt werden. Möglicherweise erleben das viele Menschen auch gerade beim Smartphone. Wir sind nun pausenlos mit anderen verbunden und können kommunizieren. Das ist toll, aber wir merken nun auch, dass dadurch nicht unbedingt Intimität entsteht und dass wir uns dennoch oft sehr einsam fühlen können. Zu dieser Einsicht gelangen wir anscheinend aber nur, wenn Wünsche technisch wirklich befriedigt werden.

Die Technik, macht uns also deutlich, wer wir sind und wie wir ticken?

Ja, Technik zwingt uns unerbittlich, immer wieder über uns selbst nachzudenken. Wir haben ja als Gesellschaft gewisse Vorstellungen über das, was der Mensch ist. Das ist immer noch sehr stark geprägt von der Aufklärung: Der mündige Bürger, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und sich individuell in seinem Handeln verwirklicht. Je mehr uns die Technik nur ermöglicht zu handeln, je mehr sie uns von Beschränkungen befreit, desto mehr stellt sich heraus, dass es vielleicht noch um ganz andere Dinge geht als wir bisher dachten. Und damit müssen wir uns auseinandersetzen und unsere Wünsche und Umsetzungen immer wieder unter dieser Perspektive betrachten.

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Gilt das auch für die momentane Digitalisierung in der Wirtschaft?

Mit der Digitalisierung sind natürlich vorhandene Erwartungshaltungen verbunden. Wir haben schon Orientierungspunkte, wie wir uns die Zukunft vorstellen, auf die wir mit neuen Entwicklungen hinarbeiten.

Auf dem Weg merken wir aber auch immer wieder, dass sich da plötzlich Richtungen auftun, die wir vorher nicht vorausahnen konnten. So war das auch beim Internet. Am Anfang entstand es als Versuch, virtuelle Kommunikation zwischen einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu ermöglichen, die darüber auch mit und an gemeinsamen Datenbanken arbeiten konnten. Und dann hat man auf dem Weg festgestellt, dass dadurch auch ganz andere Dinge möglich wurden, ganz andere Formen der Zusammenarbeit, des Austausches und eben auch des Erlebens von Gesellschaft.

Und genauso geht das jetzt auch weiter: Wir haben bestimmte Ziele im Kopf – die Idee der digitalisierten Fabrik gibt es ja schon lange – und da bewegen wir uns jetzt Stück für Stück hin. Auf dem Weg merken wir dann, wie dabei auch viele andere Möglichkeiten entstehen, an die wir vorher gar nicht dachten. Vielleicht ist es dann gar nicht mehr die Fabrik selbst ist, die die zentrale Rolle bei der digitalen Transformation der Wirtschaft spielt, sondern eher der Umstand, dass man durch die Digitalisierung auch mit Zulieferern und Kunden entlang der ganzen Versorgungskette ganz anders interagieren kann.

Die Rolle der künstlichen Intelligenz und die Verantwortung des Menschen

 

Und wenn wir jetzt die Rolle der künstlichen Intelligenz anschauen: wie beeinflusst sie diese Entwicklung und welche Auswirkungen hat sie auf den Menschen?

Künstliche Intelligenz, wie wir sie heute erleben, ist gerade deshalb intelligent, weil sie mehr ist als instrumentelle Technik ist. Sie nimmt sozusagen schon vorweg, was sie glaubt, was eigentlich getan werden sollte. Sie fügt Entscheidungen hinzu zu dem, was der Mensch macht. Dabei beruft sie sich auf Erfahrungen anderer Leute oder auf größere Muster, die man in Datenbanken festgestellt hat. Das machen Amazon und Facebook schon permanent. Dort werden uns automatisch individuell Inhalte anzeigen, bei denen die Systeme davon ausgehen, dass wir sie sehen möchten. Die Mechanik dahinter läuft aber im Verborgenen. Das erspart uns eine ganze Menge Arbeit, aber es führt eben auch dazu, dass wir nicht so viel aus dem Einsatz der Technik über uns selbst lernen können. Was wir mit der Technik tun, gibt uns keine Ergebnisse mehr, an denen wir uns abarbeiten können, um mehr über uns zu lernen. Sie gibt uns eher vor, was wir lernen sollen: was gut für uns ist, wie wir uns verhalten sollen und wer am besten zu uns passt. Das erspart uns viel Ärger, aber nimmt uns eben auch die Möglichkeit, eine Entwicklung zu durchlaufen.

Genau an dieser Stelle wird es nun wichtig, dass wir diese Situation immer wieder kritisch reflektieren und prüfen, ob wir das alles wirklich brauchen, oder ob es ganz andere Dinge gibt, die uns wichtig werden, und dann eben auch immer wieder Anpassungen an dem vornehmen, was Technik für uns leistet.

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Es stellt sich Frage nach der Verantwortung des Menschen. Was brauchen wir, um zukünftig mündig und selbstbestimmt mit diesen Entwicklungen umzugehen?

Über diese Frage denken Ingenieursvereinigungen schon seit langer Zeit nach und haben sich verpflichtet, Verantwortung für Technikentwicklung zu übernehmen. Es gibt Dokumente, die ganz genau beschreiben, was das für das Handeln von Ingenieuren bedeutet. Daran kann man sich orientieren. Ganz wichtig ist es aber auch, zu verstehen, dass wir unsere eigene Existenz nicht von dem, was wir da entwickeln, loslösen können. Die Technik, die wir in die Welt bringen, unterstützt uns und gleichzeitig definiert sie uns als diejenigen, die diese Technik nutzen und betreiben. Bisher haben wir uns als Menschen davon getrennt und gesagt: »Ich bleibe ja so und so und die Technik ermöglicht mir dieses und jenes zu tun.« Und genau diese Haltung ist in Zukunft nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Im Gegenteil: Mit der Technik, die wir nutzen, sagen wir sehr viel über uns selbst aus – als Nutzer und auch als Entwickler. Und sich dem zu stellen und zu sagen: »Das ist wirklich meins und das definiert auch ein Stück weit, wer ich bin und natürlich auch, wer wir insgesamt als Gesellschaft sind,« das wird zukünftig entscheidend sein. Das zuzulassen ist oft eine Herausforderung für uns. Die beiden Haltungen von »ich beherrsche das« oder auch »das beherrscht mich« funktionieren nicht mehr. Es läuft nur, wenn wir eine Haltung einnehmen, die lautet: »Ich lerne permanent dazu.« Wir können uns davon verabschieden, zu glauben, dass wir alles vorhersagen oder schon alles wissen können. Stattdessen gilt es zu sagen: »Ich weiß, dass ich mich immer langsam vortasten muss in Bezug auf die neuen Lösungen und über dieses Vortasten lerne ich kontinuierlich dazu.« Und diese Haltung, so glaube ich, ist die Verantwortung, um die es hier geht und die wir brauchen. Sowohl für die Menschen auf der Straße als auch für uns in unserem Expertenkontext: Experten müssen sich zunehmen begreifen als Menschen, die tatsächlich immer lernen. Das wahre Expertentum bedeutet, dass ich dieses Nicht-Wissen im Kopf behalte und merke, wie ich mich immer wieder neu zu dem positionieren muss, was ich eigentlich tue.

 

Herr Fritzsche, vielen Dank für das Gespräch.

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