Röntgen wächst zum kognitiven Sensor

14. März 2018

Für das Monitoring von großen Bauteilen, wie kompletten Autokarosserien, gibt es bislang keine serientauglichen Systeme. Mit der »RoboCT« können wir diese Bauteile nun schnell und präzise prüfen. Das System zur robotergestützten Computertomographie (CT) ist zugleich der erste Schritt zu kognitiven Sensorsystemen auf diesem Gebiet. Neben Anwendungen im Fahrzeugbau und in der Luftfahrt sollen damit etwa Retouren bei Online-Bestellungen auf Zustand und Vollständigkeit geprüft werden – ohne diese zu öffnen.

 

Langsam schließt sich die Tür der Röntgenkabine. Ein leises Klicken signalisiert: Die Schleuse ist sicher verriegelt. Wolfgang Holub, Ingenieur und Wissenschaftler an unserem Entwicklungszentrum Röntgentechnik, nimmt seinen Platz am angeschlossenen Anlagencomputer ein und startet mit wenigen Mausklicks eine Röntgenmessung. Weil die Röntgenkabine keine Fenster hat, blickt er prüfend auf einen Überwachungsmonitor, auf dem das Livebild aus der verschlossenen Kabine zu sehen ist. Wir sehen ein recht großes Bauteil – es handelt sich um den Abschnitt einer Fahrzeugkarosserie –, rund zwei Meter breit und je eineinhalb Meter hoch und tief, mit Spanngurten fest und sicher auf einer Palette verzurrt. Behutsam nähern sich diesem großen Bauteil zwei Roboterarme, ausgestattet mit Röntgenquelle und Röntgendetektor. Einer von der linken und einer von der rechten Seite der Karosserie.

Nach einer Sekunde Stillstand bewegen sich die Roboterarme weiter um das Fahrzeugteil, absolut synchron und mit höchstmöglicher Präzision. »Die Roboter nehmen gerade 2D-Röntgenbilder auf«, sagt Holub. »So können wir schon einmal gut sehen, ob es Auffälligkeiten in der Struktur der Karosserie gibt. Für den Fall, dass eine Stelle des Bauteils solche Auffälligkeiten aufweist, kann das System ganz gezielt und automatisch eine 3D-Computertomographie durchführen.« Holub stoppt den Messvorgang und nimmt händisch einige Einstellungen vor, um den Ablauf der 3D-CT vorzuführen. Kurze Zeit später sehen wir am Überwachungsmonitor, dass die Roboterarme eine völlig neue Position einnehmen. Jetzt umkreisen die Roboterarme die Stelle, an der wir eine Auffälligkeit vermuten. Während dieser 180-Grad-Drehung halten die Arme etwa jede Sekunde kurz an und nehmen ein Bild auf. »Mit dieser Vorgehensweise sind wir in der Lage, 3D-Computertomographieaufnahmen zu erstellen, die uns weitaus mehr Informationen liefern als zweidimensionale Röntgenbilder«, erklärt Wolfgang Holub.

»Wir werden zukünftig nicht einfach wahllos Materialdaten messen, sondern nur noch die relevanten Daten erfassen.«

© Fraunhofer IIS
3D-CT – Volumendarstellung der verschachtelten Struktur im Schlossbereich der Heckklappe.

Flexibilität auf einem völlig neuen Level

Aber von vorn: Was ist hierbei eigentlich das Besondere, das Neue? Schließlich sind zweidimensionale Röntgenuntersuchungen seit vielen Jahren Stand der Technik und Mittel der Wahl in der Industrie. Auch für verhältnismäßig große Objekte, wie große Leichtmetallräder oder Zylinderköpfe, werden Röntgenverfahren angewandt, indem mittels eines sogenannten Manipulators eine Anzahl von Prüfpositionen und Perspektiven abgefahren wird.

Bislang können solche Untersuchungsmethoden allerdings in der Praxis nur Objekte von begrenzter Größe und geometrischer Komplexität bedienen. Für größere Bauteile, wie in unserem Fall eine Fahrzeugkarosserie, gibt es keine serientauglichen oder gar produktionsintegrierten Systeme – schon gar nicht für vollständige 3D-Computertomographieuntersuchungen. Die Tests können ausschließlich unter Laborbedingungen mit immensem Aufwand an sehr wenigen Einrichtungen, wie den Laboren des Fraunhofer EZRT, durchgeführt werden. Erst die Möglichkeiten der »RoboCT«, also der Bewegung der Röntgenhardware mittels großer Industrieroboter, erlaubt, einen automatischen Prüfablauf abzubilden, bei dem das Bauteil, abhängig von der Prüfaufgabe, in wenigen Sekunden oder Minuten geprüft wird und nur schwer darstellbare Stellen oder Regionen mit unklarem Befund per Computertomographie detailliert ausgewertet werden. Am Anwendungsbeispiel einer Pkw-Heckklappe aus Aluminiumguss könnte es sich um eine solche Region beispielsweise beim Bereich um das Türschloss mit dessen verschachtelter Struktur handeln.

Intelligentes Monitoring im Fokus

Die robotergestützte CT, wie sie hier beschreiben wurde, ist allerdings erst der Anfang einer größeren Idee. Am Fraunhofer-Entwicklungszentrum Röntgentechnik EZRT unter Leitung von Prof. Dr. Randolf Hanke haben wir noch viel vor: Das sogenannte intelligente Monitoring ist hierbei ein wesentlicher Schlüsselbegriff. So soll es in Zukunft nicht mehr ausschließlich darum gehen, eine »Gut-Schlecht-Entscheidung« zu treffen. Vielmehr ist es unser Ziel, den Kunden ein Monitoringsystem an die Hand zu geben, das hilft, deren Prozesse zu optimieren.

Unter dem Begriff »Prozess« ist keinesfalls ausschließlich der klassische Produktionsprozess zu verstehen. Werkstoffentwicklungs-, Konstruktions-, Wartungs-, Handels- und Recyclingprozesse fallen ebenfalls darunter. »Daraus abgeleitet, verschiebt sich der Fokus unserer Forschungsbemühungen: Wir konzentrieren uns nun verstärkt auf die Entwicklung von kognitiven und autoadaptiven Sensorsystemen«, erklärt Professor Hanke. »Die Vorstöße auf dem Gebiet der robotergestützten Computertomographie vereinfachen diese Absichten erheblich«, ergänzt er.

»Big Data« unter Kontrolle

Heute versucht man, aus den riesigen Datenmengen, die zur Verfügung stehen, mittels lernender Algorithmen diejenigen Informationen zu extrahieren, mit denen man etwas bewirken, also Prozesse besser verstehen, beobachten oder optimieren kann. Wenn man heute aber über Big Data redet, versteht man dabei fast ausschließlich Fabrikdaten, Logistikdaten, Kostendaten, Maschinendaten und so weiter. Was im Zusammenhang mit Big Data bislang kaum berücksichtigt wird, sind die sogenannten Smart Materials Data. »Materialien und Produkte werden künftig in der kompletten Wertschöpfungskette, also im kompletten Kreislauf vom Rohmaterial über die Verwendung bis hin zum Recycling in seiner Veränderung gemonitort – überall da, wo Mensch, Maschine oder Umwelt das Material, den Werkstoff oder das Produkt in irgendeiner Art verändern. Und wir werden zukünftig nicht einfach wahl- oder lückenlos Materialdaten messen, sondern nur noch die relevanten Daten erfassen. Und was relevante oder smarte Daten sind, wird das intelligente Messsystem, das kognitive Sensorsystem selber entscheiden. Das sind unsere Aufgaben in der Forschung und Entwicklung für zerstörungsfreies Monitoring, mit denen wir uns als Experten für zerstörungsfreie Prüfung sehr gut auskennen und die enormes Potenzial bergen«, erklärt Professor Randolf Hanke.

Die intelligente Blackbox

In Zukunft ist folgendes Szenario denkbar: Kunden bekommen ein intelligentes Monitoringsystem ausgeliefert – eine Art »Blackbox«. Sie müssen sich mit dieser Blackbox nicht auseinandersetzen und über keinerlei Know-how im Bereich der zerstörungsfreien Prüfung verfügen. In dieser Box befinden sich beispielsweise Roboter, die Zugriff auf unterschiedliche Sensorsysteme haben und dann im weitesten Sinne selbst entscheiden, welche Methode sie nutzen. Der Roboter greift sich dann ein Röntgensystem, ein Luftultraschallsystem oder auch ein Thermographiesystem, um eine ganz bestimmte definierte Aufgabe zu lösen und nicht um etwas zu prüfen.


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»Wir werden zukünftig nicht einfach wahllos Materialdaten messen, sondern nur noch die relevanten Daten erfassen.«

© Jimmy Lopes - Fotolia.com
Retourenquoten im mittleren zweistelligen Prozentbereich sind für E-Commerce-Unternehmen eine immer schwieriger zu bewältigende Herausforderung.

Schont die Umwelt und spart Geld – robotergestütztes Monitoring im Handel

Dass diese Vision alles andere als abwegig ist, zeigen wir am Fraunhofer-Anwendungszentrum Computertomographie in der Messtechnik des Fraunhofer IIS. Gemeinsam mit der Technischen Hochschule Deggendorf planen wir ein robotergestütztes Digitalisierungscenter für mehr Effizienz im Retourenmanagement und E-Commerce-Bereich, das bereits 2018 aufgebaut werden soll.

Die Gründe für diese Neuentwicklung liegen auf der Hand: Einer Studie des Deutschen Handelsverbands zufolge ist der Online-Umsatz im Jahr 2017 insgesamt um 10 Prozent auf 48,7 Milliarden Euro angestiegen. Dabei zählen insbesondere Elektronik- sowie Bekleidungsartikel zu den beliebtesten Warengruppen. Um sicherzugehen, werden häufig zwei oder mehrere Varianten von Artikeln bestellt. Denn alles, was nicht passt, nicht gefällt oder beschädigt
ist, kann unkompliziert und oftmals versandkostenfrei zurückgesendet werden. Die Folge sind Retourenquoten im mittleren zweistelligen Prozentbereich, was für E-Commerce-Unternehmen eine immer schwieriger zu bewältigende Herausforderung bedeutet: Die retournierten Pakete müssen aktuell überwiegend von Hand geöffnet, auf Vollständigkeit, Zustand, Beschädigung oder Funktion überprüft und entsprechend sortiert werden. Laut Studienergebnissen der Retourenforschung kostet eine Paketrücksendung den Versandhändler aufgrund von Prozesskosten und Wertminderung durchschnittlich 15 Euro.

Mit der »Package Return Station« von Fraunhofer soll diesem Zustand ein Ende gesetzt werden. Das selbstlernende robotergestützte kognitive Sensorsystem, bestehend aus einer Kombination verschiedenster zerstörungsfrei messender Systeme wie Röntgencomputertomographie, Ultraschall- oder Thermographiesensoren, ermöglicht die dreidimensionale Abbildung von retournierten Paketen samt Inhalt. Das Besondere: Das Paket muss bei diesem Vorgang nicht geöffnet werden. Die Rekonstruktion, Visualisierung und Analyse der Volumendaten erfolgt durch intelligente Softwaresysteme und Bildverarbeitungsalgorithmen – auch auf Basis moderner Verfahren der künstlichen Intelligenz. Dabei werden Abnutzungen und Fehlstellen der Ware vollautomatisch am digitalen Abbild ermittelt. Darüber hinaus werden die erfassten Informationen mit geometrischen Sollmodellen, Stücklisten und anderen wichtigen produktspezifischen Informationen verglichen, sodass innerhalb kürzester Zeit bedienerunabhängig weitere Schritte im Retourprozess, wie zum Beispiel eine automatisierte Entnahme und Sortierung der Ware, eingeleitet werden können. Demzufolge wird es möglich sein, Retouren in ihrer Gesamtheit künftig schneller zu bearbeiten, womit E-Commerce-Unternehmen nicht nur deutlich Kosten einsparen, sondern auch schneller auf individuelle Kundenwünsche reagieren können.

Die »Package Return Station« ist nicht das erste Projekt, bei dem wir uns erfolgreich mit der Digitalisierung von Konsumgütern für das virtuelle Einkaufen beschäftigen. Zusammen mit der Mifitto GmbH, einem Start-up aus dem Ruhrgebiet, wurde der schnellste auf dem Markt verfügbare 3D-Scanner für Schuhe entwickelt, bei dem Kunden in wenigen Schritten eine persönliche und einzigartige Foot-ID erhalten. Dieser persönliche 3D-Scan kann mit bereits digitalisierten Schuhmodellen aus einer existierenden und ständig wachsenden Datenbank verglichen werden, um den optimal passenden Schuh für den Fuß zu finden. Somit kann die Anzahl bestellter Schuhvarianten bereits im Vorfeld auf ein Minimum reduziert werden. Neben den wirtschaftlichen sind die ökologischen Folgen von Retouren nämlich erheblich. Bei einer CO2-Emission von 500 Gramm je Paket ergeben sich für den Transport von 300 Millionen Rücksendungen jährlich in Deutschland – neben verstopften Straßen – 150 000 Tonnen CO2-Emission.

Die »Package Return Station« soll im Forschungszentrum für Moderne Mobilität der Technischen Hochschule Deggendorf zusammen mit dem Fraunhofer IIS aufgebaut, in Betrieb genommen und mit weiteren Sensoren zu einer universellen Digitalisierungsstraße auf Basis kognitiver Sensornetzwerke für die Entwicklung neuartiger Anwendungen in den Bereichen Mobilität, Handel, Transport und Recycling ausgebaut werden.